O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Musik pur vom Feinsten

GRIGORY SOKOLOV
(Diverse Komponisten)

Besuch am
7. Juli 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Historische Stadthalle Wuppertal

Es ist wenige Minuten nach 20 Uhr, das Parkett des Großen Saals der Historischen Stadthalle Wuppertal ist bis auf ein paar Stühle voll besetzt. Die Beleuchtung geht aus bis auf ein schummriges Bühnenlicht und die vorgeschriebenen Spots auf die Notausgänge. Grigory Sokolov betritt das Podium hin zum Konzertflügel, verbeugt sich kurz, als scheint er den Begrüßungsbefall zu ignorieren, setzt sich unverrichteter Dinge an das Instrument und meißelt sofort den einführenden Es-Dur-Akkord der Eroica-Variationen Ludwig van Beethovens in die Tastatur. Unvermittelt ist es mucksmäuschenstill. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Bis auf Pi mal Daumen an zwei Händen abzählbaren kleinen Hustenreizen dauert die spannungsgeladene Atmosphäre bis zum Schluss gegen 22.30 Uhr an.

Das Publikum hat wohl auf Anhieb verstanden, worum es einzig und allein an diesem Abend geht: die Musik. Kein überall üblicher heller Spot auf den Musiker soll ablenken. Die Augen der Klassikfans sollen also nicht davon abgelenkt werden. Bei dem großen, 1995 verstorbene, legendären Pianisten Svjatoslav Richter war die Bühne sogar stockdunkel. Nur eine kleine Stehlampe war auf das Notenpult auf dem Flügel gerichtet, um laut seiner Aussage „dem Publikum die Möglichkeit geben zu können, sich voll und ganz auf die Musik zu konzentrieren anstatt auf den Musiker“. Das ist auch das Anliegen Sokolovs, der überhaupt kein Aufhebens um seine Person macht und sich mit Demut, Hochachtung und Respekt den Intentionen der Komponisten widmet. Werktreue ist dementsprechend sein oberstes Gebot.

Für Beethoven waren Variationen Zeit seines Lebens sehr wichtig. Denn anhand deren Formen und Prinzipien erprobte er die elementare Gesetzmäßigkeit der Musik in ihrem Dualismus von Wiederholung und Gegensatz, von Gleichem und Anderem. Ihm bot sich hier die Möglichkeit, seine Musiksprache aus der Variante, der puren Veränderung zur echten Metamorphose, zum Verändern, zum Weiterentwickeln, zur Perspektive zu entwickeln. Ein Beispiel dafür sind seine 15 Variationen und die Fuge in Es-Dur mit der Opuszahl 35, bekannt als Eroica-Variationen. Es ist nicht Sokolovs Anliegen, anhand dieses teils pianistisch vertrackten Werks, seine exorbitante Virtuosität in den Vordergrund zu stellen. Sie ist für ihn nur Handwerk, um die musikalischen Entwicklungen des Stücks deutlich zu vermitteln. Beginnend von der schlichten Vorstellung des Bassthemas und seine Behandlung in den ersten drei Variationen, über die Einführung der Melodie in der Oberstimme und ihre dialektische Beziehung zueinander bis zu den satztechnischen Kunststücken in der siebten Variation mit der Bezeichnung Canone all’ottava führt er den Notentext glasklar vor Augen. Den bizarren Humor in der Variationskette neun bis dreizehn führt er in Nummer vierzehn zu tiefer Besinnung, gefolgt von einem weihevollen Beginn der letzten Nummer, die er hin zu virtuos wie innig klingender Koloristik führt. Beethovens viel an Georg Friedrich Händels Suiten geschulte Fugentechnik bringt er leicht verständlich zu Gehör und lässt im anschließenden Andante con moto mit seinem unter anderem eindringlichen Trillerspiel das Meisterwerk glänzend Ausklingen. Wem ist live schon einmal solch eine schlüssige, tief ausgelotete, hochmusikalische Interpretation zu Ohren gekommen, die ganz im Sinne des Komponisten sein dürfte?

Innere Einsamkeit war der Anlass für den alternden Johannes Brahms, fünf Jahre vor seinem Tod die vier Sammlungen Opus 116 bis 119 niederzuschreiben. Sie sind eine Art Monologe, persönliche Mitteilungen, Rückblick und Vorschau. Opus 117 bezeichnete er als „Wiegenlieder meiner Schmerzen“. Die in ihm enthaltenen drei Intermezzi sind Andante-Sätze und im Piano beziehungsweise Pianissimo gehalten. Traumhaft schön, wie entrückt und mit einer zarten Tongebung bringt Sokolov mit anrührenden Melodieführungen Licht und Trost, ein Aufrichten aus Trauer und schließlich den Zusammenbruch der Hoffnung zum Vorschein. Zudem arbeitet er feinsinnig die harmonischen Strukturen heraus und spannt packende, große musikalische Bögen über jeden der drei Sätze.

Ebenfalls wie aus einem Guss kommt Robert Schumanns Zyklus Kreisleriana von der Bühne. Hier gibt es einen musikalischen Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Note. Es sind acht wilde und exzentrische Sätze mit einer großen melodischen und harmonischen Spannweite. Mustergültig vermittelt Sokolov den mannigfaltigen emotionalen Gehalt, den geistreichen Tiefgang und erarbeitet ungemein packend die leidenschaftliche Erregung der schnellen Sätze in den ruhigen, ganz von der Melodie beherrschten Absätzen. Rund 40 Minuten sind zu genießen, in deren Verlauf der ganze Reichtum an Schumannscher Fantasie vollends offenbar wird.

Es hat sich wohl immer noch nicht überall herumgesprochen, dass ein Rezital Sokolovs aus drei Konzertteilen bestehen kann, wenn sich das Publikum hellauf begeistert zeigt. Die übliche Dauer von rund zwei Stunden führt er dann ad absurdum, da seine Zugaben kein Ende nehmen wollen. An diesem Abend sind es aufgrund der berechtigten, nicht enden wollenden, begeisterten stehenden Ovationen gleich sechs. In deren Verlauf ziehen etliche Zuhörer von dannen und verpassen weitere glanzvoll vorgetragene Musik. Anhand der Brahms-Ballade op. 118 Nr. 3, den Préludes Nummer neun und zehn aus Opus 23 von Sergej Rachmaninow, dem Prélude op. 11 Nr. 4 Alexander Skrjabins und Frédéric Chopins bekanntem Prélude op. 28 Nr. 20 bringt er noch einmal seine ganz große pianistische und hochmusikalische Klasse zum Ausdruck. Schließlich beendet er den nachhaltig in Erinnerung bleibenden, gehaltvollen Abend mit Johann Sebastian Bachs Präludium in h-Moll, BWV 855a in einer Fassung des russischen Pianisten, Komponisten und Dirigenten Alexander Siloti, der von 1863 bis 1945 lebte, meisterhaft in barocker Tongebung.

Hartmut Sassenhausen