O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nik Schölzel

Aktuelle Aufführungen

Jahreszeitliche Stimmungen

VIER JAHRESZEITEN
(Dominique Dumais)

Besuch am
4. November 2023
(Premiere)

 

Mainfrankentheater Würzburg, Blaue Halle

Die Vier Jahreszeiten opus 8 von Antonio Vivaldi, eine Sammlung von vier Violinkonzerten von 1726, sind wohl eines der bekanntesten klassischen Musikstücke. Es begleitet uns als kaum wahrgenommener Ohrwurm überall im Alltag, sogar bis ins WC bei guten Restaurants, in Warteschleifen am Telefon, in Geschäften … Seltsamer Weise nützt sich diese Musik nicht ab. Warum? Sie zeichnet Stimmungen nach, die sich verbinden mit den Gefühlen, die jahreszeitliche Veränderungen in der Natur im Menschen auslösen können. Naturerscheinungen wie Winde, Gewitter, Sturm, Kälte verbinden sich mit Reaktionen und Tätigkeiten von Menschen, umschrieben durch die Programmmusik. Die Thematik dieser Tondichtung und die wechselnden Tempi, die Gegensätze von schnell und langsam, eignen sich wohl auch für eine tänzerische Gestaltung mit Kontrasten zwischen gemeinschaftlichen und solistischen Passagen. Und davon ließ sich die Würzburger Ballettchefin Dominique Dumais anregen zu einer Choreografie nach der Vorgabe der Vier Jahreszeiten. Doch sie nimmt als musikalische Basis nicht Vivaldis berühmtes Werk, sondern die kongeniale Nachschöpfung von Max Richter, also recomposed in elektronischer Bearbeitung des 1966 geborenen Komponisten, veröffentlicht 2012 bei der Deutschen Grammophon. In die Blaue Halle des Würzburger Mainfranken-Theaters, einen vorher industriell genutzten Raum, fügt sich die moderne Version vom Band in ihrer tänzerischen Umsetzung bestens ein. Die Choreografie unterstreicht dabei in Harmonie mit dem Bühnenbild von Paul Zoller und den oft transparenten Kostümen von Kerstin Laube die poetische, positive Aussage; die Unterschiede zwischen weiblich und männlich sind dabei verwischt.

Im Mittelpunkt steht der Mensch im Einklang mit der Natur, sichtbar gleich am Anfang durch die Projektion eines Auges auf dem zentralen, beweglichen, halb durchsichtigen Segel auf der Bühne, und hörbar wird dann die Natur durch Vogelzwitschern. Denn der Frühling weckt mit warmem, gelbem Sonnenlicht alles auf, und die Menschen, die wie zögernd eine hintere, starre Brüstung übersteigen, können sich entfalten in freieren Bewegungen, legen ihre Spannung ab, strecken sich; einzelne treten aus der Masse heraus, schließen sich zu einem Paar im gefühlvollen Tanz zusammen, gehen voneinander, bilden Gemeinschaften oder Reihen, oft in auch langsamen Figuren, sehr zart.  Die Parallelen zur Natur werden deutlich, wenn sich später Vogelgestalten mit Kopfputz zusammenfinden. Jede Jahreszeit ist farblich in den Kostümen und vom Licht von Andreas Just angedeutet. Im Frühling gibt es zarte Schattierungen, im Sommer dominieren stärkere Rottöne, im Herbst erinnert manches an satte Laub-Färbung, und der Winter wird durch eisige Abschattierungen von Grau bis Weiß zitiert. Auch auf dem Segel, das mal vor, mal hinter geschoben wird, variieren die Projektionen: Im Frühling ist goldgelbes Sonnenlicht zu erkennen, im Sommer mahnen Wolkenformationen an drohende Gewitter, im Herbst gibt es müde Farben, und der Winter kündigt sich an mit Schneeflocken-Tupfen, Nebel, weißem Licht, zerrissenen Eiskristallen. Am Ende schließt sich das Auge. Zwischen den einzelnen Sätzen, auch zur Einleitung der anderen Stimmung, gibt es Vogelstimmen, Töne wie von sirrenden Insekten, fröhliche Musik, Windgeräusche, Sirrendes und Vogelgekreisch. All das fügt sich zusammen zu einem jahreszeitlichen Stimmungsbarometer und wird von der dreizehnköpfigen Ballettkompagnie in wechselnden Formationen, als fesselnde Soli oder in beeindruckenden Pas de deux, als geballte Menge von Menschen oder als Reihung nachvollzogen. Sprünge, Drehungen, Bodenfiguren sind geprägt von geschmeidigen Bewegungen auch der Hände und Füße. Doch auch Witziges kommt zum Zug, wenn gerade im Winter Figuren mit Pelzmützen oder anderen wärmenden Zutaten sich über die Barriere heraustrauen und sich dabei gegenseitig necken. Alles bleibt bei der Choreografie im Fluss, wechselt immer wieder Tempo und Ausdruck, und am Schluss begeben sich die Tänzer langsam ins Publikum als Zeichen, dass alle hier Teil der Menschen und ihrer Gefühle im Jahreslauf sind.

Das Premierenpublikum im vollbesetzten Haus ist begeistert und feiert alle Mitwirkenden lange mit stehenden Ovationen.

Renate Freyeisen