O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Szene aus Orfeo ed Euridice - Foto © Matthias Baus

Aktuelle Aufführungen

Barocco euforico

BAROCKTAGE 2021
(Diverse Komponisten)

Besuch am
5., 6. und 7. November 2021
(Einmalige Aufführungen)

 

Staatsoper Berlin

Barocktage 2021: Drei Tage Barockmusik sind acht Stunden Musik. Eingetaucht in die Welt der französischen Barockmusik in der Staatsoper Berlin, bieten sie mit einer Premiere und zwei Wiederaufnahmen in exquisiten Besetzungen eine faszinierende Reise in Zeit- und Musikgeschichte.

Historisch gesehen eine Zeit der Auflösung von höfischer Zeremonie-Kultur unter Ludwig XIV. – selbst Tänzer im Ballet de cour, solange es ihm noch möglich war – mit seinem absolutistischen Anspruch. Obwohl Liebhaber der italienischen Musik, steht er als Machtpolitiker für eine französische Identität von Kultur, insbesondere von Musik.

In der Musikgeschichte beschreibt sie an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert einen Übergang von der Tradition einer Opéra-ballet zur Tragédie lyrique. Stilbildend von Jean-Baptiste Lully für die französische Barockoper, prägt dieser mit Jean-Philippe Rameau einen Aufbruch mit unterschiedlichen Zeit-Optionen. Die Modernisierung der von Lully zusammen mit dem Dichter Philippe Quinault entwickelten Opernform Tragédie en musique gilt vielen bald nur mehr als Tradition. Zunehmend gewinnt Rameau als Compositeur à la mode an Gewicht und Einfluss.

Die Barocktage 2021 rekonstruieren den weithin blinden Fleck zwischen Lullys Tod 1687 und Rameaus erster Oper Hippolyte et Aricie 1733, den bis heute auf den Bühnen dominierenden Barockgiganten mit André Campras Oper Idoménée aus dem Jahr 1712. Gekrönt von Christoph Willibald Glucks Schlüsselwerk der französischen Reformoper Orfeo et Euridice in der Wiener Fassung von 1762 mit seinem in der Vorrede zu Alceste formulierten Anspruch, „die Musik wieder auf ihr wahres Amt zurückzuführen“, ist ein formidables Barock-Setting in sui generis.

Diese drei Tage sind nicht nur ein ästhetisch musikalischer Hochgenuss. Sie atmen beinahe familiär zwischen Publikum sowie Dirigenten und Solisten. Bei der Idoménée-Premiere schaut ein Sir, der Dirigent Simon Rattle, aus dem ersten Rang, Chevalier de l’Ordre National de la Légion d’Honneur, der Dirigentin Emmanuelle Haïm bei der Arbeit mit dem von ihr 2002 gegründeten Orchester Le Concert D’Astrée zu. Das Pult im Visier, wo er selbst zwei Tage später das Freiburger Barockorchester mit Hippolythe et Aricie leitet. Ebenso im Premierenpublikum die Mezzosopranistin Magdalena Kožená, die gleichfalls zwei Tage später als Phédre in der Rameau-Oper glänzt.

Die Aufführungsfolge Idoménée, Orfeo et Euridice, Hippolyte et Aricie – in den Formaten Tragédie en musique, Azione teatrale per musica und Tragédie-Lyrique bildet die kanonische Barockgeschichte des 18. Jahrhunderts ab. In den den Libretti zugrunde liegenden mythologischen Geschichten der Heimfahrt des griechischen Helden Idoménée nach der Vernichtung Trojas, der Legende von Orfeo et Euridice sowie der von Theseus geführte Machtkampf um die Herrschaft in Athen mit der Liebesnot von Hippolyte et Aricie schwirren Amors Pfeile. Liebe stiftend, wie Zwist und Mord säend. Die Schicksale der Menschen liegen allmächtig in den Händen der Götter.

Dass Orfeo et Euridice, gewissermaßen Zentrum und programmatische Mitte der Barockopernentwicklung, am zweiten Tag in der Staatsoper gespielt wird, macht Sinn. Musikhistorisch mit Glucks Bedeutung als Komponist mit reformistischem Anspruch, die erstarrten Strukturen der Opéra seria zu überwinden. Aufführungspraktisch mit der Wiederaufnahme, in der Anna Prohaska wie in der Premiere 2016, damals noch auf Ersatzbühne der Staatsoper im Schillertheater, als Euridice brilliert.

Über der Aufführung unter Christophe Rousset mit der Akademie für Alte Musik liegt ein merkwürdig uninspirierter Schatten. Jürgen Flimms Inszenierung, die in Kooperation mit Gehry Partners zwischen sakraler Klassizität und avantgardistischer Architekturskizze der Bühnenbilder changiert, nimmt Rousset allzu schwerblütig in den Tempi. Das Orchester findet erst nach geraumer Zeit zu einer Einheit. Viel Unruhe in den Kontroversen zwischen Götter, Halbgöttern und Nymphen. Adornos Euphorie, alle Oper sei Orpheus, ist an diesem Abend wenig abzugewinnen.

Der Staatsopernchor intoniert zuverlässig ohne grundsätzliche Überzeugung. Allein Prohaska mit dem Countertenor Max Emanuel Cenčić als schmerzlich verzagter Orfeo, der den von Euridices noch unmittelbar an der Pforte der Unterwelt eingeforderten Liebesbeweis um ihres Weiterlebens Willen nicht geben kann, lohnt die Aufführung. Im Unterschied zu anderen Countertenören hat Cenčićs Stimmlage eine flexibel differenzierende Ausgewogenheit auch in den tiefen Registern.

Indem Prohaska am nächsten Tag als Aricie ebenso beeindruckt wie als Euridice, ist sie eine nachhaltige Multiplikatorin der Barocktage 2021. In der von Ólafur Eliasson lichtspiegelnd installativ gebauten Bühne, inklusive Laser- und Nebel-Effekten übersetzt die Inszenierung von Aletta Collins das barocke Credo nachhaltig. Rameaus Komposition zieht alle Register einer dramatischen Entwicklung mit bis dato nie gehörten klanglichen Phänomenen. Eine Zukunftsmusik aufgebaut aus harmonischen Komplexitäten.

Solche merveilleux, Wunder, etwas eigentlich Unwahrscheinliches, das sich ereignet, geriert sich unter Simon Rattle zu einer magischen und ästhetischen Imagination. Das Freiburger Barockorchester harmoniert im scheinbar selbstverständlichsten Einverständnis mit dem Dirigenten. Häufig spielen einzelne Instrumentengruppen im Stehen. Auch ein symbolischer Akt, Orchester, Solisten, Chor und Tänzer wie Signalpunkte miteinander zu verbinden.

Lichtspiegelungen ranken sich um Rattles Haarschopf wie ein Heiligenschein, der mit dem teleskopartigen Brustspiegel der Diane – Ema Nikolovska in göttlicher Statuarik – korrespondiert. So gesehen ein motivisches Abbild der griechischen Mythologie in der Arrondierung der Grenzen zwischen Leben und Tod, die die Götter mit Amors Pfeilen markieren.

Szene aus Hippolyte et Aricie – Foto © Karl und Monika Forster

Choreografisch übersetzt durch ein osmotisch atmendes Corps de Ballet mit nachahmenden Meereswellen, aufbrausenden Winden sowie animalischen Ungeheuer-Hexereien, zeichnet es mit skulpturenhaften Bewegungen scherenschnittartige Lichtspuren, beispielsweise von Bogenschützen auf der Jagd. Die Geometrie einer kosmischen Ordnung als Assoziationen sphärenhafter Harmonien.

Orchestral im Zusammenspiel mit den Solisten, die in den Divertissements, liedhaften Airs sowie den musikalischen Deklamationen die Liebe der jungen Protagonisten Hippolyte et Aricie im Widerschein der Intrigantin Phèdre mit dem getäuschten Thésée, Gyula Orendt mit flexibel aufgestellter Tenor-Breitband-Klangfarbigkeit, umschreibt, gelingt der Aufführung eine reiche musikalische Affektdarstellung.

Prohaskas geschmeidiger, ausdrucksvoll artikulierender Sopran verbindet sich mit dem arios stimmungsvollen, überhöht klingenden Tenor von Reinoud Van Mechelen zu jugendlichem Liebesmut. In der Rolle der Widersacherin Phèdre begeistert Magdalena Kožená vornehmlich im dritten Akt als an ihrer Liebe zu Hippolythe verzweifelnder Heroine mit expressivem Ausdruck und warmem Timbre mit pathetisch aufgeladenem Tonfall.

Einzig die Choreografie, respektive Dramaturgie des Staatsopernchores, seine Platzierung im Graben disharmonieren mit Collins Inszenierung. Diese Disposition ist ganz offensichtlich dem obsessiv dominanten Licht-Design Eliassons geschuldet. Verbunden mit langen, kategorisch unterbrechenden Pausen, gibt dem Publikum damit nach dem ersten Akt überreichlich Gelegenheit, seinem Applaus-Drang freien Lauf zu lassen.

Allein unter der Perspektive, Barockmusik ihren Raum zu geben und bis zum Finale bitte auch zu lassen, beweist sich insbesondere im Nachhinein, was nach der Premiere von Idoménée schon Gewissheit ist. Emmanuelle Haïms Interpretation nobilitiert Campras lange vergessene, im Opernspielplan weitestgehend vernachlässigte Oper mit ihrer energischen, hoch konzentrierten, intelligenten Autorität. Ihr Dirigat choreografiert gleichsam die Partitur zu einer Einheit von Musik, Darstellung und Tanz. Mit flexiblen Taktwechseln reiht sie symbiotisch musikalische Formen und Satztypen, deklamatorisch pathetische Textpassagen, Rezitative mit doppelter Besetzung von Cembalo und Gambe sowie ariosen Gesang mit eindrucksvollem Melodieführungsverständnis. Alles in einer dynamischen Balance, ohne Wenn und Aber, ohne Pause. Außer Generalpausen, die der Dramaturgie inhärent sind.

Campras üppige und vielfältige Instrumentalsätze klangmalt Le Concert D’Astrée mit Gefühl für das Dramatische wie das Lyrische der einmal gewaltsamen oder andererseits lieblichen Natur. Der Chor dieses enigmatisch intonierenden Orchesters, Träger der Handlung, zeichnet emotional und kraftvoll den amourösen Erzählrahmen.

Idoménée überkreuzt sich mit seinem Sohn Idamante in der Liebe zu der trojanischen Gefangenen Ilione. Chiara Skeraths Sopran findet eine bemerkenswerte Mitte in der Artikulation zwischen schicksalhafter Ergebenheit und widerständigem Selbstbewusstsein. Die Figur des Idoménée zeichnet der Bariton von Tassis Christoyannis mit Stimme und Körper im Ringen, die Verstrickung zwischen Lust und Last, zwischen Liebesrauschen und Machtbewusstsein radikal aufzulösen. Und öffnet damit letztlich dem Wahnsinn das Tor zu tödlicher Tat. Samuel Boden charakterisiert Idamante in transzendentaler Entrücktheit, die ihn staunend traumwandlerisch noch die Ermordung durch seinen Vater erleben lässt.

Szene aus Orfeo ed Euridice – Foto © Matthias Baus

Diese Dreieckskonstellationen erweitert Électre als vierte Mitspielerin. Hélène Carpentier, ausgebildet als Pianistin und Flötistin, übersetzt ihr Gefühl für Töne und Stimmungen in einen schlanken, lyrischen Sopran, der nichtsdestotrotz die Électre mit unbändiger Wut auflädt. Letztlich wird sie wie alle dieses Quartetts zu Verliererin durch Tod oder Wahnsinn. Die Göttin Venus – machtbewusst tönt und dröhnt der Mezzosopran von Eva Zaïcik sowie die Götter Éole und Neptune, Yoann Dubruque mit jugendlich frischer Attitüde, sichern zudem das eherne Göttergesetz.

Die Inszenierung von Àlex Ollé, einer der Direktoren der legendären, 1979 gegründeten Theatergruppe La Fura dels Baus assoziiert ein Psychogramm von Götter-Macht und Mensch-Sein in der Bühnenarchitektur von Alfons Flores. Gespiegelte Projektionen erweitern den Bühnenraum in filmische Dimensionalität. Paläste strahlen und versinken in Trümmern. Schiffe stranden an unwirtlichen Ufern. Menschen ertrinken hilflos. Mitunter sieht sich das Opernpublikum selbst in diese Räume gespiegelt. Alle in der Staatsoper werden zu Mitspielern, eingetaucht in Campras Welt des Idoménée.

Die Compagnie Dantzaz markiert, führt und reflektiert die Protagonisten in Hoffnung und Angst um und wider Amors Pfeile. Es ist, als würde choreografisch ziselierend wie mit einem Grafitstift auf Papier gemalt. Haïm koordiniert mit unmissverständlichem Blickkontakt, lässt, ob anmutig wiegend, ob mit tänzerischer Verve, ob mit drangvollen Tempi, keine Note aus.

Idoménée, fast ist man geneigt zu sagen eine sensationelle Entdeckung der Barocktage 2021, überzeugt im Zusammenspiel von Instrumentalmusik, Gesang und Tanz. „Idoménée, ein griechischer Held aus der Ilias, aber es könnte auch jemand aus unserer heutigen Zeit sein“, gibt Haïm im Programmheft zu Protokoll.

Den Konjunktiv übersetzt die Idoménée-Inszenierung in ein ontologisch konnotiertes Heute. Eine wunderbare, stilvolle, vom Publikum zu Recht umjubelte Aufführung. Das Ereignis der Barocktage 2021.

Peter E. Rytz